Corona, Noten & Freiheit

Achim Domma
7 min readMar 16, 2022

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Über die Frage, wie sinnvoll die Coronamaßnahmen der Bundes- sowie Landesregierungen sind bzw. waren, ließe sich trefflich diskutieren. Denkst du vermutlich. Aber bist du dir da so sicher?

Um eine gescheite Diskussion führen zu können, müßtest du ja erstmal wissen, welche Maßnahmen genau und zu welchem Zweck ergriffen wurden. Die Bewertung der Wirksamkeit von Maßnahmen ist in der Tat gar nicht mal so einfach. Wer kann schon sagen, ob eine Maßnahme “gerecht” ist? Oder “erfolgreich”? Wie könnten wir darüber diskutieren, wenn wir unterschiedliche Vorstellungen von “gerecht” oder “erfolgreich” haben? Oder ohne uns überhaupt auf das Ziel einer Maßnahme verständigt zu haben?

Demokratie

Die Diskussion zwischen uns wäre aber eh bestenfalls spannend, ganz sicher aber irrelevant. In unserer Gesellschaft regeln wir das so:

Wir wählen Politiker:innen in verantwortungsvolle Machtpositionen, in denen sie die Geschicke unserer Gesellschaft im Sinne und zum Wohle der Allgemeinheit lenken sollen. Machen sie ihren Job gut, wählen wir sie wieder. Sie dürfen weitermachen. Machen sie ihren Job schlecht, übergeben wir die Verantwortung an andere. Das ist, stark vereinfacht, das Prinzip der repräsentativen Demokratie. Soweit die Theorie.

In der Praxis kann diese Idee nur funktionieren, wenn ich mir als Wähler:in ein möglichst objektives Bild von der Arbeit der regierenden Politiker:innen machen kann. Stell’ dir mal kurz vor, ein Schüler weigerte sich, der Lehrerin sein Heft zu geben und bestünde darauf, eine Eins zu bekommen, weil die Arbeit toll sei. Lächerlich, oder? Bei Schüler:innen schon. Nicht so bei Politiker:innen. Schau’ dir mal die ersten Presseerklärung in der Pandemie von Jens Spahn an. Er sagte immer zuerst, dass er einen geilen Job macht. Nicht wieso, nicht wie genau. Einfach nur, dass er toll ist. Da kommt das niemandem lächerlich vor.

Informationsfreiheitsgesetz (IFG)

Politiker:innen loben sich gerne selbst, haben es aber gar nicht gerne, wenn man ihnen auf die Finger schauen will. Das mag menschlich sein, aber wer sich auf ein öffentliches Amt bewirbt weiß, dass Kontrolle von Politiker:innen zu eine Demokratie gehört. Deshalb gibt es ein Gesetz (bzw. mehrere Landesgesetze), das dem entgegen wirken soll: Das Informationsfreiheitsgesetz. Den größten Teil meines Wissens zu diesem Thema verdanke ich https://correctiv.org/bildung/tutorials/anfragen-fragdenstaat/.

Für diesen Artikel mußt du über das IFG vor allem folgendes wissen:

Du als Bürger:in darfst grundsätzlich alle Dokumente einer Behörde einsehen, so lange es keine berechtigten Gründe dagegen gibt. Zu den “berechtigten Gründen” kommen wir später nochmal. Wenn eine Ministerin im SR z.B. Behauptungen zum Infektionsgeschehen an Schulen verbreitet, darfst du sagen: “Zeigen Sie mir bitte die Zahlen!”. Um das nochmal zu betonen: Das IFG bezieht sich nur auf die Zahlen. Nicht auf Erklärungen, Interpretationen, … Du musst immer nach Dokumenten fragen!

Teaser: Ein paar Mitstreiter:innen und ich haben das getan. Die Erfahrungen könnten dich verunsichern.

FragDenStaat.de

Soweit zur Theorie. In der Praxis ist’s dann noch etwas komplizierter. Du glaubst nicht, was ich in den letzten Jahren über Verwaltungsstrukturen gelernt habe, was ich nie wissen wollte. Großen Dank an alle Jurafreund:innen, die das ertragen haben.

FragDenStaat ist eine Plattform, die das Stellen von Anfragen erträglicher macht. Die erste Hürde für mich war, dass man eine Anfrage an eine konkrete Behörde stellen muß. Du kannst nicht einfach bei “der Landesregierung” oder “Herrn Hans” anfragen. Der korrekte Adressat wäre in diesem Fall der “Ministerpräsident und Chef der Staatskanzlei Saarland”. Zumindest ich wusste das vor Corona nicht. Ein weiteres Beispiel: Den Rettungsdienst hätte ich z.B. beim Gesundheitsministerium erwartet. Er gehört aber zum Innenministerium.

In der Praxis läuft eine Anfrage meistens wie folgt:

  • Du findest heraus, welche Behörde du fragen musst. Dann überlegst du dir, welche Dokumente du sehen willst und schreibst die Anfrage über FragDenStaat. FragDenStaat liefert Templates, damit die Anfrage juristisch korrekt ist, dir keine unerwarteten Kosten entstehen können usw.
  • Warten. Die Behörde hat vier Wochen Zeit, dir zu antworten. Meistens wird diese Zeit ausgeschöpft, oft überzogen. Man könnte auch sagen: Du wirst erstmal ignoriert.
  • Wenn du innerhalb der vier Wochen Antwort bekommst: Schön für dich! Wahrscheinlicher ist, dass du das “Unabhängige Datenschutzzentrum Saarland” (kurz: Datenschutzstelle) um Vermittlung bitten musst. Die Datenschutzstelle kümmert sich im Saarland um die Einahltung des IFG und erinnern die jeweilige Behörde daran, dass das IFG ein Gesetz ist und Anfragen beantwortet werden müssen. Nach ca. zwei weiteren Wochen kommt dann meistens eine Antwort.
  • Zumindest bei deinen ersten Anfragen wirst du jetzt feststellen, dass du mit der Antwort nichts anfangen kannst. Die Gründe sind vielfältig, lassen sich aber grob wie folgt zusammenfassen: Die Behörde hat wenig Lust, die Karten auf den Tisch zu legen, und deine Anfrage war nicht präzise genug gestellt.
  • Es sind gerade sechs Wochen vergangen. Deine Aufregung hat sich gelegt, deine Motivation auch und die Behörde hat das Problem erfolgreich ausgesessen.

Kurz zur Erinnerung: Wir hatten oben geklärt, dass objektive Informationen essentiell sind, damit Demokratie funktionieren kann. Offensichtlich sieht es nicht gut für uns aus.

Anfragenfrust

Im Falle von Corona kamen nun mehrere Faktoren zusammen: Das Thema quält uns lange genug, dass ausreichend Zeit und Frust vorhanden waren, um Anfragen längerfristig zu verfolgen. Und dank mehrerer Mitstreiter:innen konnten wir unsere Motivationstiefs gegenseitig abfedern.

Im Folgenden werde ich einfach — vermutlich recht unsortiert — Anfragen verlinken und kurz die Intention dahinter kommentieren. Unterm Stich waren die Fragen recht “erfolglos”. Mach’ dir einfach klar, dass die meisten dieser Themen dich betreffen, deine Regierung aber nicht über ihre Arbeit reden will und du dir somit überhaupt kein objektives Bild machen kannst.

Luca

Tobias Hans konnte gar nicht schnell genug auf das Framing von Smudo aufspringen, um sich als Macher darzustellen. Den Versuch, genauere Infos zu den Vertragsbedingungen, Kosten, … zu bekommen, findest du in der Anfrage “Luca App: Kosten und Alternativen”.

Die Luca-App wurde lange vor der Einführung von Expert:innen mehrfach zerpflückt. Ganz davon abgesehen, dass Bürger:innen genötigt wurden, ihre persönlichen Daten in eine nachgewiesen unsichere Anwendung eines nachgewiesen inkompetenten privaten Anbieters einzuspeisen. Digitalisierung à la CDU. Stand heute (14. März 2022) werden ab Ende März Alternativen erlaubt, die Luca-App aber weiter beworben.

Saarland-Modell

Tobias Hans war nicht nur Vorreiter bzgl. Luca, sondern darin, Wissenschaft zu ignorieren und verfrüht Maßnahmen zu lockern. Das “Saarland-Modell” war geboren.

Das ausgiebige “Sich-Selbst-Auf-Die-Schultern-Klopfen” von Hans hatte ich in “Die Wirksamkeit des Saarland-Modells” schonmal ausführlich kommentiert. Die kläglichen Versuche, Details zu erfahren, findest du hier:

Im Kontext des Saarland-Modells ging es oft um die Überlastung des Gesundheitssystems. Natürlich wurden für “Überlastung” pseudo-objektive Kriterien kommuniziert, mit willkürlichen Grenzen, die aber als Naturkonstanten gehandelt wurden. In meiner Welt ist ein Gesundheitssystem ganz sicher überlastet, wenn lebenswichtige Eingriffe bei anderen Patient:innen — z.B. Krebs-OPs — verschoben werden müssen. Ich dachte, ich frag’ mal nach:

Verschobene OPs scheinen also für die Landesregierung kein wichtiges Entscheidungskriterium zu sein. Um an dieser Stelle nochmal das IFG zu stressen: Das saarländische Gesundheitsministerium hat mir die Daten nicht gegeben. Hätten sie sie vorliegen, hätten sie das gemäß IFG tun müssen. Ob die Daten in Krankenhäusern erfasst werden, ist nebensächlich. Wichtig ist: Verschobene OPs waren für die Entscheidungen des Gesundheitsministeriums kein relevantes Kriterium. Das reicht — zumindest mir — um die Arbeit zu bewerten.

Die nächte Welle

Im Herbst 2021 war klar, dass es eine “Winterwelle” geben würde. Die Vorhersage der Wissenschaft war klar und deutlich. Jeder, der wollte, wußte das. Die Landesregierung hat jedoch alle Warnungen ignoriert und sich nicht vorbereitet. Nur wie “beweist” man Untätigkeit mittel des IFG? Immerhin ist es unwahrscheinlich, dass dazu Akten angelegt werden. Oder vielleicht doch?

Wäre es nicht interessant zu wissen, womit sich die Landesregierung in der Zeit beschäftigt hat, in der sie sich auf die “Winterwelle” hätte vorbereiten müssen? Und siehe da: Berufliche Terminkalender von Behördenmitarbeiter:innen sind Dokumente und fallen somit unter das IFG. Ja, ich war auch überrascht. In diesem Fall aber positiv. Die Anfragen findest du hier:

Aktueller Stand heute (14. März 2022) ist:

  • Frau Streichert-Clivot hat die Anfrage als erste abgelehnt. Der einzige Ablehnungsgrund für eine solche Anfrage sind übrigens Sicherheitsbedenken. Diese Karte hat Frau Streichert-Clivot gezogen. Man hat Bedenken, ich könne rückwirkend ein Bewegungsprofil erstellen. Die Klage dagegen liegt im Moment bei einem Gericht und wartet auf weitere Bearbeitung. Das Ergebnis ist noch offen.
  • Frau Bachmann hat mit der gleichen aber freundlicheren Begründung abgelehnt. Mangelns Resourcen und Relevanz habe ich diese Anfrage nicht weiter verfolgt.
  • Herr Hans ist strategisch geschickter als Frau Streichert-Clivot und versucht auf Zeit zu spielen. Man hat mir zuerst unvollständige Daten geschickt. Seit dem werden sowohl ich, als auch die Datenschutzstelle einfach ignoriert. Ich müßte jetzt auch dort klagen, was noch mehr Geld kostet und vor der Wahl keine Ergebnisse mehr liefern würde.

Kinder & Schulen

Frau Streichert-Clivot hat quasi unbegrenzte Freiheit, in allen lokalen Medien beliebige Behauptungen zu verbreiten, ohne jemals eine kritische Nachfrage fürchten zu müssen. Als Eltern hatten wir auch hier versucht, an Details zu kommen:

Unterm Strich bleibt der Eindruck, dass Frau Streichert-Clivot sich ausschließlich auf die Meinung einiger lokaler Kinderärzt:innen bezieht, wenn sie von “Experten” redet. Die Meinung dieser Ärzt:innen basiert nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und wird von Kolleg:innen teilweise scharf kritisiert.

Zahlen über infizierte Schüler:innen und Lehrer:innen werden unter https://www.saarland.de/DE/portale/corona/bildung-kultur/bildung/aktuelles-bildung/aktuelles-bildung_node.html veröffentlicht. Wir haben die Daten über die letzten 6–8 Wochen archiviert. Die Zahlen sind so verworren, dass ich die abschließende Analyse mangelns Zeit und Nerven erstmal verschieben mußte. Evtl. werde ich sie irgendwann an dieser Stelle in einem Update nachliefern.

Aber wie soll ich einem Ministerium vertrauen, das offensichtlich nicht einmal die grundlegenden Daten seines aktuell wichtigsten Problems vorlegen kann?

Da das Kultusministerium ein besonders zäher Sumpf zu sein scheint, war “Aktenplan & Aktentitel des Ministerium für Bildung und Kultur Saarland” der Versuch, etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Ich konnte in all diesen Dokumenten nur einmal das Wort “Pandemie” finden. Wo die Akten zu Infektionsschutz, externen Beratern, psychische Belastung von Kindern, … zu finden sind, konnte ich noch nicht klären. Falls sich jemand mit dem Thema auskennt, wäre ich für Hilfe dankbar.

Demokratie?

Die saarländische Landesregierung erstickt mögliche Kritik schon im Keim, weil jegliche Information, die Kritik ermöglichen würde, zurückgehalten wird. Oder vorausschauend erst gar nicht erfasst wurde? Nicht erfasste Tode oder Spätfolgen durch verschobene OPs werden in der öffentlichen Debatte nie eine Rolle spielen. Weil sie einfach nicht existieren.

So kann Demokratie nicht funktionieren. Das sollte uns allen Sorge bereiten. Jemand muß dem entgegen wirken. Wer, wenn nicht wir?

PS:

Großen Dank an alle Testleser:innen, die 1001 Rechtschreibfehler und schlechte und unverständliche Formulierung korrigiert haben. Weitere Korrekturen nehme ich gerne entgegen.

Die Mitstreiter:innen habe ich mit Rücksicht auf ihre Privatsphäre extra nicht namentlich erwähnt. Sobald sie es wünschen, ändere ich das natürlich gerne.

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Written by Achim Domma

Weltverbesserer, naiver Idealist, Softwarearchitekt

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